Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion? Zur Bedeutung der Religion für die Soziale Arbeit

Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion? Zur Bedeutung der Religion für die Soziale Arbeit

Organisatoren
Walburga Hoff, Universität Vechta; Stefanie Duttweiler, Fachhochschule Bern
Förderer
Katholische Kirche im Oldenburger Münsterland
Ort
Vechta
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.03.2023 - 31.03.2023
Von
Walburga Hoff, Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Universität Vechta

Dass zwischen Religion und dem Engagement für Bedürftige ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, belegen nahezu alle Weltreligionen. Max Weber bezeichnet im Kontext seiner Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen sogar die Caritas und den Einsatz für den Nächsten als den „spezifischen Inhalt des Religiösen“1. In diesem Sinne kann die Herausbildung von Wohlfahrtsstaaten – vor allem im Hinblick auf den europäischen Kontext – nicht ohne den Bezug zu den christlichen Religionen diskutiert werden2. Insbesondere das Modell des deutschen Wohlfahrtsstaates und die darin eingeschlossene Entwicklung Sozialer Arbeit verweisen auf eine ausgeprägte „religiöse Tiefengrammatik“3. Im Unterschied dazu hält Soziale Arbeit jedoch die Religion und das Religiöse sowohl in ihren theoretischen Diskursen als auch in ihrem Selbstverständnis als Profession und personenbezogene Dienstleistung auf Abstand. Eine solche Abstinenz gegenüber der Religionstatsache, die bereits mit der Verberuflichung von Hilfe im beginnenden 20. Jahrhundert eingesetzt hat, lässt sich bis in die Gegenwart beobachten, selbst vor dem Hintergrund, dass sich ein großer Teil sozialer Dienste in der Trägerschaft der Kirchen und konfessionellen Wohlfahrtsverbände befindet. In jüngster Zeit deutet sich allerdings eine Zäsur im Hinblick auf das Phänomen der Distanzierung an. Denn die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen – auch im Kontext einer wachsenden Migrationsgesellschaft – trägt dazu bei, dass die Handlungspraxis der Sozialen Arbeit stärker mit religiösen Fragestellungen in Berührung kommt.

Dem ungeklärten und oftmals tabuisierten Verhältnis von Religion und Sozialer Arbeit auf die Spur zu kommen und dabei historische, systematische und empirische Perspektiven miteinander zu verknüpfen, war das formulierte Ziel der Tagung. In ihrem Eröffnungsvortrag verdeutlichte WALBURGA HOFF (Vechta) den entscheidenden Einfluss religiös überlieferter Begründungsmuster sowie konfessionell geprägter Handlungsansätze auf die institutionelle Ausgestaltung der Wohlfahrtspflege im 19. und 20. Jahrhundert. Daneben wurden aber auch die kontinuierlichen Abgrenzungsbemühungen einer sich neu etablierenden Profession gegenüber der Religion thematisch. Eine solche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sei für Soziale Arbeit auch heute noch bezeichnend – so die formulierte These. Mit Blick auf das Spannungsfeld von Säkularisierung und dem Wiedererstarken des Religiösen diskutierte Hoff, inwieweit religiöse und quasi-religiöse Orientierungen in der professionellen Handlungspraxis Sozialer Arbeit eine stärkere Berücksichtigung finden sollten, wobei sie ihre Überlegungen in den Zusammenhang der Denkfigur der starken Wertungen bei Charles Taylor rückte.

KARL GABRIEL (Münster) widmete sich in seiner Keynote-Präsentation der konfessionellen Prägung der Wohlfahrtspflege in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, die er im Hinblick auf die unterschiedliche Ausgestaltung des Korporatismus zwischen Sozialstaat und Wohlfahrtverbänden in unterschiedlichen Zeitabschnitten analysierte. Dabei fokussierte er die Formierung der dualen Wohlfahrtspflege, die die Prinzipien christlicher Sozialethik in dem Gesamtkomplex öffentlicher Sozialpolitik verankert habe. Erst mit dem dann einsetzenden Umbau des wohlfahrtsstaatlichen Modells in Form einer quasi geräuschlosen Transformation in den 1990er-Jahren sei das Subsidiaritätsprinzip durch die Etablierung von Quasi-Märkten ausgehöhlt worden. Auf diesem Wege seien die Wohlfahrtsverbände vom „Regen des Korporatismus“ in die „Traufe des Marktes“ geraten.

Das erste Panel, das sich neuen Formen des Religiösen in der Sozialen Arbeit zuwendete, eröffnete CHRISTOPH NETTE (München), indem er die Spannbreite gesellschaftlich geltender Vorstellungen gelingenden Lebens – so auch die Orientierung an der Selbstoptimierung – als mögliche (Letzt-)Ziele Sozialer Arbeit beleuchtete. Zugleich zeigte er Optionen auf, die die christlichen Religionen zur Verfügung stellten, die jedoch – so seine These – eine Übersetzungsleistung erforderlich machten. Unbeantwortet blieb die Frage, ob Soziale Arbeit in dieser Hinsicht „dolmetschen“ könne.

SIMON FREISE (Leipzig) zeichnete anhand einer empirischen Studie muslimischer Gemeinden nach, wie islamisch-säkulare Deutungsmuster zu einem Sinngenerator werden und neben der sozialen Integration auch einen beruflichen Aufstieg befördern.

Diese Perspektive erweiterte FRIEDERIKE BENTHAUS-APEL (Bochum), indem sie die seit einigen Jahren zu beobachtende Reintegration von Spiritualität in den Feldern von Medizin, Therapie und Sport als Anlass nahm, nach der religiösen Sinndimension für die Wiederherstellung von Gesundheit zu fragen. Am Beispiel ausgewählter Bereiche einer alternativen Gesundheitskultur zeigte die Soziologin spezifische Ausdeutungen spiritueller Sinnbezüge auf und stellte die Frage in den Raum, welche professionsethischen Implikationen mit der Wiederkehr religiös motivierter Welt- und Sinndeutungen für die ansonsten an wissenschaftlichen Normen orientierten Ethiken in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit verbunden sein könnten.

Das Potenzial theologischer Erklärungsmodelle für die Soziale Arbeit stand im Brennpunkt des zweiten Panels. MARKUS HUNDECK (Jena) und TOBIAS KÜNKLER (Kassel) beleuchteten die Überschneidungsverhältnisse beider Disziplinen und skizzierten Möglichkeiten, wie beide Disziplinen voneinander lernen und profitieren könnten.

In diesem Sinne erläuterte MOUHANAD KHORCHIDE (Münster) in seinem Abendvortrag zur Konzeption und zu den Zielen eines neu eingerichteten Weiterbildungsstudiengangs an der Universität Münster Chancen und Herausforderungen einer gemeinsamen Ausbildung von Imamen und islamischen Sozialarbeiter:innen. Gerade in der Möglichkeit, beide Kohorten miteinander ins Gespräch zu bringen – so der islamische Religionspädagoge – könne sich das gegenseitige Anregungspotenzial von Religion und Sozialer Arbeit entfalten.

Der Keynote-Beitrag von AXEL BOHMEYER (Berlin) lenkte den Fokus der Diskussion auf die Thematisierung von Religion im Wissenschaftsdiskurs der Sozialen Arbeit. Auf der Grundlage einer diskursanalytischen Untersuchung von Beiträgen einer führenden Fachzeitschrift Sozialer Arbeit aus den letzten vierzig Jahren kam Bohmeyer zum Ergebnis einer bestehenden „Marginalisierung von Religion“ innerhalb der Disziplin, in der sich zugleich das „Nicht-Verhältnis“ von Religion und Sozialer Arbeit spiegele. Allerdings sei es fraglich, ob Soziale Arbeit überhaupt für religiöse Fragen zuständig sei, da ihre primäre Aufgabe in der Lösung sozialer Probleme bestehe.

Das dritte Panel beschäftigte sich mit jenen Institutionen Sozialer Arbeit, für die die Vermittlung von Religion im weitesten Sinne relevant ist. Insofern standen christliche und jüdische Wohlfahrtsverbände sowie konfessionelle Hochschulen im Mittelpunkt der Debatte. GERD STECKLINA (München) rekonstruierte in diesem Zusammenhang sozialethische Grundlagen jüdischer Wohlfahrt und die Art und Weise ihrer Umsetzung in der Wohlfahrtspflege und Sozialarbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei dienten ihm die Schriften von Leo Baeck dazu, die unmittelbare Verbindung von Religion und Wohlfahrtsstrukturen zu konkretisieren.

JOHANNA BOEDEGE-WOLF (Vechta) richtete den Blick auf die Wohlfahrtsverbände der christlichen Kirchen und problematisierte, inwieweit diese sowohl angesichts fehlender finanzieller und zeitlicher Ressourcen als auch aufgrund einer allgemein schwindenden religiösen Bindung der Mitarbeiter:innen überhaupt auf die religiösen Bedürfnisse der Adressat:innen Bezug nehmen können.

Der Frage, inwieweit sich Religion als Ressource oder als Risiko für die Alltags- und Lebensbewältigung erweisen kann, gingen die Beiträge des vierten Panels anhand empirischer Untersuchungen nach. NANTHINY RAJAMANNAN (Frankfurt am Main) stellte eine Interviewstudie vor, die potenzielle Ressourcen und Belastungsfaktoren von Religion bei der Bewältigung spätmoderner Kontingenzerfahrungen herausarbeitete. Dazu kontrastierte sie die Bewältigungsmuster von religiös orientierten und weniger religiös gebundenen Personen und verdeutlichte an diesem Material, wie einzelne Aspekte der Religion selektiv genutzt werden und wie es darüber hinaus zu individuellen Modifikationen religiöser Inhalte kommt.

ANNEKE WIESE, ISABELL STEIGLEDER und MATTHIAS NAUERTH (Hamburg) richteten mit Bezug auf das soziologische Modell der Resonanz von Hartmut Rosa und die sozialphilosophische Denkfigur der Selbsttranszendenz von Hans Joas ihr Erkenntnisinteresse auf „transpersonale Orientierungen“ die mit Erfahrungen der Resonanz und der Selbsttranszendenz einhergehen. Deren Relevanz für die Alltags- und Lebensbewältigung zeigten sie anhand der Bewältigungsmuster von Adressat:innen im Feld sozialpsychiatrischer Hilfen auf.

Das abschließende fünfte Panel konzentrierte sich auf das Konzept der Religionssensibilität und damit auf einen Ansatz, der Religion, Religiosität und Spiritualität als wesentliche Dimensionen der Lebenswelt handlungstheoretisch integriert und die Sensibilität für die religiöse Dimension der Lebenspraxis als professionelle Handlungskompetenz definiert. Dazu setzen sich die Beiträge sowohl mit theoretischen Begründungsmustern als auch mit empirischen Untersuchungsergebnissen auseinander. So referierte STEFANIE DUTTWEILER (Bern) über eine explorative Interviewstudie aus der Schweiz, die den Bedingungen religionssensibler Beratung in der Sozialen Arbeit nachgeht. Für deren Umsetzung – das zeige die Auswertung der Interviews – sei weniger die Religiosität der Beratenden entscheidend, sondern vielmehr deren persönliche und professionelle Habitusentwicklung sowie die Kompetenz, in handlungspraktischen Problemen auch existenzielle Fragestellungen zu erkennen. Daneben würden allerdings auch die Bedingungen der Institution wie z.B. Auftrag, Fallbelastung oder Supervisionsmöglichkeiten eine wesentliche Rolle spielen.

Insgesamt ist es der Tagung gelungen, eine Debatte voranzutreiben, die in den letzten Jahren zwar anfänglich thematisch geworden ist, jedoch in den Diskursen der Disziplin und Profession bislang nur eine nachgeordnete Bedeutung einnimmt. Im Unterschied dazu haben die einzelnen Beiträge mit ihren historischen, sozialwissenschaftlichen, theologischen und handlungstheoretischen Perspektiven bei der Bearbeitung der leitenden Fragestellung die unabdingbare Relevanz der Religionstatsache sowohl für die Entwicklung der Disziplin als auch für die der Profession sichtbar gemacht. Gleichzeitig sind auf diesem Wege aber auch entsprechender Diskussionsbedarf und die Notwendigkeit einer verstärkten Debattenkultur zur Frage des Verhältnisses von Religion und Sozialer Arbeit thematisch geworden. So drängt sich beispielsweise die Frage auf, wie die historische Verankerung der Sozialen Arbeit in den religiös-theologischen Denkformen und Praktiken sowie in konfessionellen Einrichtungen für ein erweitertes Verständnis der eigenen Disziplin- und Professionsgeschichte genutzt werden kann. Zum anderen bleibt weiterhin zu klären, auf welche Weise der Dimension der Religion und des Religiösen in den Theorien Sozialen Arbeit Rechnung getragen werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum die theoretischen Diskurse Sozialer Arbeit – ganz im Unterschied zu den übrigen Sozialwissenschaften – der Differenzkategorie Religion bislang kaum Beachtung entgegengebracht haben. Um alle diese Fragen aufzugreifen und weiter zu bearbeiten, ist eine Anschlusstagung im kommenden Jahr geplant.

Konferenzübersicht:

Kim-Patrick Sabla-Dimitrov (Vechta): Begrüßung

Walburga Hoff (Vechta): Einführung in das Tagungsthema: Religion und Soziale Arbeit. Bestandsaufnahmen und Überlegungen zu einem ungeklärten Verhältnis

Keynote

Karl Gabriel (Münster): Konfession, soziale Dienste und Sozialarbeit in Deutschland – Sonderweg oder Königsweg?

Panel I: Transformationen religiöser Deutungsmuster in der Moderne

Kornelia Sammet (Berlin/Halle): Moderation

Birgit Bender-Junker (Darmstadt): Vom Kulturprotestanismus zur Zivilreligion. Religiöse Semantiken und religiöse Transformationen in Fachlichkeitsdiskursen der Sozialen Arbeit seit 1900

Christoph Nette (München): Von Selbstoptimierung bis Glückseligkeit. Mögliche (Letzt-)ziele Sozialer Arbeit

Simon Freise (Leipzig): Kann die Ressource sprechen? Das Islamisch-Säkulare in sozioreligiösen Selbstthematisierungen

Friedericke Benthaus-Apel (Bochum): Zwischen Tabu und hohem Bedarf. Zur Attraktivität spiritueller Körpertherapiepraktiken in den gesundheitsbezogenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit

Panel II: Zum Potenzial theologischer Deutungsmuster für die Soziale Arbeit

Johanna Bödege-Wolf (Vechta): Moderation

Markus Hundeck (Jena): Eine „Schwache Theologie“ für die Soziale Arbeit? Anregungen zu einem theoretischen und methodischen Gespräch beider Disziplinen über das Unbedingte

Tobias Künkler (Kassel): Das Konzept der Fülle und das Verhältnis von Religion und Sozialer Arbeit

Abendvortrag

Mouhanad Khorchide (Münster): Wieviel Religion verträgt bzw. braucht Soziale Arbeit am Beispiel der sozialen Arbeit im islamischen Kontext

Keynote

Axel Bohmeyer (Berlin): (K-)ein Thema? Religion in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit

Panel III: Zur Bedeutung des religiösen Elements in institutionellen Kontexten Sozialer Arbeit

Walburga Hoff (Vechta): Moderation

Johannes Haeffner (Nürnberg) / Martin Nugel (Nürnberg): Kirchliche Hochschulen für Angewandte Wissenschaften: Laboratorien religionssensibler Sozialer Arbeit

Gerd Stecklina (München): Sozialethische Grundlagen jüdischer Wohlfahrt

Johanna Bödege-Wolf (Vechta): Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände als religiöse Ansprechpartner

Panel IV: Religion als Ressource und Risiko für die Lebensbewältigung

Alexander Ristau (Vechta): Moderation

Nanthiny Rajamannan (Frankfurt am Main) Die Religion als Ressource und Risiko in der Kontingenzbewältigung

Felicitas Held (Bamberg): Zur Rolle der Religion und religiösen Deutungsmustern als Ressource für die Bewältigungsaufgaben von Jugendlichen

Anneke Wiese / Isabel Steigleder / Matthias Nauerth (Hamburg): Transpersonale Ressourcen in ihrer Bedeutung für individuelle Bewältigungsstrategien und professionelles Hilfehandeln

Panel V: Religionssensible Praxis in Handlungsfeldern Sozialer Arbeit

Kornelia Sammet (Berlin/Halle): Moderation

Claudia Meyer (Eichstätt-Ingolstadt): Soziale Arbeit: (k)ein Ort für Religion. Theorie und Praxis der Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit

Stefanie Duttweiler (Bern): Religionssensible Beratung

Lea Heyer (Hildesheim): Zur beziehungsstrukturierenden Bedeutung von Religion für die Offene Kinder- und Jugendarbeit

Anmerkungen:
1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920.
2 Gerhard Wegner, Religion und Wohlfahrt, in: Detlev Pollak u.a. (Hrsg.): Handbuch der Religionssoziologie, Wiesbaden, S. 693-713, bes. S. 695.
3 Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter: Die religiöse Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaats. Begriffs- und diskursgeschichtliche Befunde, in: dies. (Hrsg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse, Tübingen 2017, S. 467-489, bes. S. 467.

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